Amok in Winnenden – Sozialarbeiter: Schnelle Lösungen gibt es nicht.
02.01.2010
Aus Sicht des Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH) gibt es nach dem Amoklauf keine schnellen Antworten: „Wir sind es den Opfern schuldig, Ruhe einkehren zu lassen und Raum für Trauer und Begreifen des Schrecklichen zu geben“, so die 2. Vorsitzende des DBSH, Gabriele Stark-Angermeier. „Verletzte, Angehörige und Helfer brauchen langfristig gesicherte professionelle Hilfe und Unterstützung bei der Verarbeitung des Erlebten. Soziale Arbeit kann dabei Hilfe bieten.“
Zum menschlichen Leben gehören auch Unglücke, Tot und Trauer, ohne das man letztendlich das „Warum“ und „Was wäre wenn“ erklären zu können. Gleichwohl macht es aus Sinn, Fragen zu stellen, ohne aber letztgültige Antworten zu erwarten.
Es ist unverständlich, wenn aus vermeintlich sportlichen Gründen privat großkalibrige Waffen aufbewahrt werden – die wenigsten Vereine nutzen solche Waffen. Dem Vater von Tim K. jetzt mit verantwortlich für die Tat zu erklären, weil er die Waffe nicht unter Verschluss hielt, greift zu kurz. Letztlich wird sich in kaum einer Familie Privates immer verschließen lassen. Letztlich benötigen auch die Eltern von Tim besondere Hilfe. Sie haben ihren Sohn verloren, sie müssen sich mit dem Gefühl auseinandersetzen; Entwicklungen ihres Kindes nicht in ihrer ganzen Tragweite erfahren zu haben; und sie müssen sich dem Gedenken an ihren Sohn annähern, obwohl dieser so viele Menschen getötet hat. Gefühle von Trauer, Schuld und Hilflosigkeit werden schwer auf ihnen lasten. So schwer es auch ist, dies zuzulassen, auch die Eltern von Tim brauchen den Beistand des Gemeinwesens.
Diskutiert wird auch über die Gefahren von Internet und Computerspielen. Tatsächlich gibt es einen Zusammenhang zwischen der Nutzung dieser Medien und solchen Taten. Aus Sicht des DBSH sind aber weder Internet-Kommunikation noch Computerspiele verantwortlich für ein solches Geschehen. Vielmehr erlauben sie – oftmals verbunden mit der Entwicklung einer Suchtstruktur – das Abtauchen in „virtuelle Parallelwelten“. Auf der einen Seite Unauffälligkeit, auf der anderen Seite Selbstüberschätzung und die Inszenierung einer Identität, die im realen Leben immer wieder enttäuscht wird. Solche Phänomene finden sich jedoch nicht nur im Internet, auch der Zulauf zu rechtsradikalen oder anderen gewaltbereiten Gruppen verspricht solche Parallelwelten. Verbote würden daher die Schauplätze nur verlagern.
Zu klären ist, wie es dazu kommt, dass junge, fast immer männliche Menschen in solche Welten „abtauchen“. Die Ursachen hierfür können sehr vielfältig sein: psychische Krankheiten, empfundene Minderwertigkeit, Isolation, Schwierigkeiten im Kontaktverhalten, usw.
Hier in „Wenn (kein Internet) – Dann (wäre es nicht passiert) – Schablonen“ zu denken, dient lediglich der Entlastung von der selbst empfundenen Hilflosigkeit, aber es nutzt niemand weiter. Wir leben in einer Gesellschaft, die immer höhere Anforderungen stellt. Kinder und Jugendliche bei der Bewältigung diese Unübersichtlichkeit zu helfen, muss Aufgabe aller Beteiligten sein.
Fest steht nach Winnenden aber eines, so der DBSH: Keine noch so gute Schule kann eine solche Entwicklung mit Sicherheit erkennen. Die Schule hat einem feststehenden Bildungsauftrag zu folgen, im Mittelpunkt stehen Unterricht und Wissensvermittlung.
Allerdings wird auch deutlich, dass es in der Schule einer größeren Achtsamkeit gegenüber allen Kindern und Jugendlichen bedarf, psychische Probleme belasten nicht nur die auffälligen Schüler aus sozial benachteiligten Elternhäusern.
Um diese Achtsamkeit zu fördern bedarf es auch eines erheblichen Ausbaus der Schulsozialarbeit. „Eine SozialarbeiterIn für eine ganze Schule reicht bei weitem nicht aus“, so der DBSH. Vielmehr muss Schulsozialarbeit nicht nur als Beratungs- und Zusatzangebot präsent, sondern fester Bestandteil in den Angeboten der einzelnen Klassen sein, etwa in der Vermittlung sozialer Kompetenzen.
Gleichwohl bleibt Schule ist für Jugendliche lediglich ein – wenn auch zentraler – Ort, wie etwa auch Familie und Freizeit. Schule kann daher auch nicht Auffangbecken für alle Lebensbereiche sein.
„Jugendliche brauchen Orte gelingender Kommunikation“, gerade auch außerhalb vorgegebener Strukturen in Schule und Familie.
Bedauerlicher weise finden viele Jugendliche für ihre Freizeit oft nicht mehr die Orte, die zu ihnen „passen“. Mit Sorge hat der DBSH in der Vergangenheit immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass die offene und kommunal geförderte Jugendarbeit nicht mit neuen Entwicklungen Schritt halten konnte oder sogar im Umfang reduziert wurde. „Jugendliche benötigen, gerade dann, wenn sie selbst Probleme empfinden, niedrigschwellige und angeleitete Orte für Gespräch und Begegnung“, so Gabriele Stark-Angermeier. Diese Orte müssen sich abseits von Schule und anderen formalen Strukturen bewegen. Zu einer gelungen Jugendarbeit gehören Jugendclubs, Jugendverbandsarbeit, qualifizierte Jugendarbeit der Vereine aber auch niedrigschwellige Beratungsangebote: „Der Verweis auf die therapeutischen Angebote des Gesundheitssystems hilft nicht weiter, viele Jugendliche empfinden die Therapie in einer Klinik oder einer niedergelassenen Praxis als viel zu fremd und zu weit weg von ihrem Leben“. Der DBSH fordert einen flächendeckenden Ausbau niedrigschwelliger Beratungsangebote für Jugendliche.
Auch eine andere Entwicklung betrachtet der Verband mit Sorge: Erfreulicherweise verbessert sich die Position der Mädchen in Schule und Ausbildung. Sie erreichen bessere Bildungsabschlüsse und bewegen sich in stabileren Beziehungen. Männliche Jugendliche finden mit (alten), als vermeintlich typisch männlich erkannten Verhaltensweisen immer weniger Anerkennung. Vor allem, wenn sich in Familie und privatem Umfeld keine männlichen Vorbilder finden lassen, bedarf es Alternativen in Schule und Freizeit. Aus Sicht des DBSH muss daher alles getan werden, um den Anteil von Männern in Erziehung, Bildung und Sozialer Arbeit entsprechend der demographischen Wirklichkeit zu erhöhen.
Der DBSH sieht diese Überlegungen nicht als Lösung des Problems. Letztlich lassen sich solche Taten niemals ausschließen. Aber wir sollten das tun, was zu tun ist und worüber wir eigentlich genug wissen – dort, wo sich Gesellschaft immer weiter ausdifferenziert braucht es eine Kultur, die das Eingebunden sein im Zusammensein mit dem Anderen fördert.